Nur wenige Kilometer abseits von Rheinsberg liegt das Städtchen Fürstenberg/Havel mit dem Ort Ravensbrück.
Ravensbrück, damit verbindet sich für viele Ältere unter uns noch fast automatisch der Begriff des Frauen-KZ, die Vorstellung von Frauen und Kindern hinter Stacheldraht, ausgemergelte, sterbende weibliche Gestalten in KZ-Kleidung, davor daneben dahinter brutale männliche Wesen, die die Frauen misshandeln, töten.
Die Frage nach Ravensbrück löst hier wenig Interesse aus, „Ach ja, da irgendwo bei bei Fürstenberg, da war doch das mit dem Frauen-KZ, da ist nicht viel …“, die Begeisterung hält sich in überschaubaren Grenzen, andere „Touristenziele“ werden deutlich intensiver angepriesen, dieser und jener See, ‚bei dem Fischer musst Du gewesen sein‘, alles klingt enthusiastischer als Ravensbrück.
Die Frage steht, ist es Desinteresse, Unwissen, Scham? Scham, vielleicht im sonst makellosen Ferienparadies diesen Schandfleck zu haben? Ich weiss es nicht. Es mag auch spontan niemand mit mir darüber reden, also lasse ich es.
Die Fahrt bietet wenig, Waldstrassen, Ruhe, die Gegend um Priebert, auf mehreren Hinweisschildern als „Wassersportressort“ ausgewiesen, wenig Verkehr, noch weniger Menschen, es steht mir auch nicht der Sinn danach, mein Ziel ist Ravensbrück.
Ich denke an Auschwitz, den Buchenwald, Mauthausen, alles Stationen grausamster menschlicher und gesellschaftlicher Verbrechen, die im deutschen Namen, mit Wissen, mit Duldung, mit passiver, aber auch aktiver Unterstützung der „einfachen Menschen“ geschahen. Dass hinterher kaum noch jemand jemals irgendetwas gemerkt, gewusst, getan haben wollte, das hatte ich schon als Kind erfahren, hatte aber auch erlebt, welche Stigmatisierung es mit sich brachte, der nachkriegsgeborene Enkel eines Nazis zu sein.
Dabei war ich im Osten Deutschlands aufgewachsen, in dem wir Nachgeborenen davon ausgingen, eingebleut bekamen, dass die meisten Menschen immer auf der Seite der „Guten“ gestanden hätten, Kommunisten, Antifaschisten, glühende Gegner der Nazis gewesen seien. Und nun hatte man sich die Nazis vorgenommen, zumindest derer man habhaft werden konnte, die meisten seien allerdings rechtzeitig vor der Zugriff in den Westen abgehauen und dort mit offenen Armen empfangen worden.
Opa Edmund selig war ein armer Schlucker, er konnte nicht nach dem Westen abhauen, er hatte keine Kohle, er hätte auch kein Ziel gehabt, keinerlei familiäre oder sonstige Bindung, also blieb er in Erfurt und kam er nach dem Krieg für Jahre ins sowjetische Sonderlager Buchenwald.
Auf Deutsch: die kleinen Nazis, die aktiven Mitläufer gingen in den Knast, die überlebenden großen, die, die „die Büchsen gespannt hatten“, die die Mitläufer dann mehr oder weniger willig und freudig abdrückten, gingen in der Tat in den Westen. Dort wurden sie fix entnazifiziert und kamen, zuweilen über den mühsamen Umweg einer kleinen, schnell in Bewährung umgewandelten Strafe wieder in Amt und Würden. Am Beispiel der ärztlichen und pflegerischen Euthanasieverbrecher etwa, lässt sich die Entwicklung sehr gut nachvollziehen. (Darüber werde ich später noch ausführlicher berichten.)
Ja, auch im Osten rutschte dieser oder jener Verbrecher durch die Maschen des Gesetzes oder man lies ihn rutschen weil er noch „gebraucht“ wurde. Die Regel war es nicht, es war die Ausnahme.
Ich erinnere mich gut an die Ausgrenzung unserer Familie im Dorf, Edmund selig war der Ortsgruppenleiter gewesen, während die ortsansässigen Großbauern, nach deren Pfeife Edmund getanzt hatte, über Nacht ‚auf der Kesselsuppe wieder ganz oben schwammen‘, als schon große Fettaugen, die auch immer Osten schnell immer größer wurden.
Selbst die Ausbeutung von „Ostarbeitern“, auch von alliierten Kriegsgefangenen war plötzlich kein Makel mehr, ‚man hatte ihnen ja schließlich immer genug zu essen gegeben‘, wie dem Vieh auch – letzteres sagten sie nicht laut. Und nicht selten hatte im Dorf, nach den Erzählungen der Eltern, auch der junge, knackige französische ‚Kriegsgefangene‘ das Bett des an der Front heldenhaft für Führer, Volk und Vaterland kämpfenden Herrn Gemahls vorsorglich schön warmgehalten. Gut war es gewesen, wenn dem Herrn des Hauses an der Front sogar noch der Heldentod gewährt werden konnte, dann war man nach beiden Seiten für die Zukunft gut gerüstet.
Und Opa Edmund selig, die ärmste Sau im Dorf, brummte in Buchenwald seine Strafe ab. Als er nach Jahren – wider allen Erwartens – doch noch zurückkam, war er ein gebrochener Mann, wurde im Dorf von seinen früheren ‚Chefs‘ gemieden, zum alleinigen Sündenbock abgestempelt, schließlich stockdepressiv, lag bis zu seinem Tod jahrelang nur noch im Bett, um schließlich auf seinem hölzernen Nachtstuhl neben dem Bett still und allein zu sterben, Oma Anna richtete da gerade der Arbeiterkolonne des Großbauern, unter dessen Dach sie zwei Zimmer, natürlich zur Miete, bewohnen durfte, das Mittagessen. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits 78 Jahre, stand krumm und konnte mit ihrer Arthrose kaum noch laufen. Trotzdem arbeitete sie die Miete für ihre beiden Zimmerchen ab. Die zwei Treppen bis unters Dach wurden ihr bei jedem Gang zur körperliche Qual.
Der Großbauer wurde zwischenzeitlich genötigt in die GPG einzutreten, die Abkürzung stand für Gärtnerische Produktionsgenossenschaft. Er behielt alle Rechte an seinem Eigentum, wurde eine Art Meister und die Familie war nach der erneuten Wende plötzlich nicht nur reich, sondern steinreich, weil ein beträchtlicher Teil ihrer ererbten Ackerflächen am Rand von Erfurt wie von Geisterhand zum Bauland wurden.
So wurden die Fettaugen immer größer und oben schwimmen sie natürlich um so besser.
Ravensbrück selbst, auf Sand gebaut, ist eine dörfliche Ansiedlung, mittendrin und doch abgelegen, so als würde der Ort sich von dem Teil seiner Geschichte distanzieren. Die Gedenkstätte, ein moderner Zweckbau als Entree, Kasse, elektronische Führer, viele Bücher zum Thema. Die frühere Kommandantur, die in Bau und Zuschnitt eher an eine Schule der fünfziger Jahre erinnert, denn als Eingang zur Hölle imponiert, beherbergt heute die Dauerausstellung zum Frauen-KZ, eine sehr ruhige Darstellung, die im Gegensatz etwa zu Mauthausen mehr sachliche Fakten, denn pures Grauen vermittelt.



Der Rest der Anlage ist Jugendherberge, beinhaltet Wohn- und Arbeitsräume, insgesamt wenig ’spektakulär‘.
In der Ausstellung wird mein Bild wehrloser Häftlingsfrauen auf der einen Seite und unmenschlicher männlicher SS auf der anderen Seite etwas relativiert, da die weibliche Täterseite zumindest angerissen wird. (Darüber werde ich später berichten, ist es doch auch Gegenstand meiner eigenen Recherchen zur Täterseite der Euthanasie.)
Insgesamt wirkt Ravensbrück regional im Sand versinkend, in der Ausstellung findet sich das Zitat einer noch jugendlichen Häftlingsfrau bei ihrer Ankunft im KZ: „Hier ist es langweilig, nur Sand und Bäume.“ Ich finde keine Information, ob sie die Langeweile überlebt hat … ich hoffe es für sie.