Verlässt man Rheinsberg gen Norden überquert man nach wenigen Kilometern die Landesgrenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Die Grenze ist wohl eher verwaltungstechnisch und virtuell zu sehen, kein Schlagbaum, keine Zöllner, kein Stacheldrahtzaun, nicht mal eine simple Selbstschussanlage springt ins Auge.
Zwei Dinge sollte man trotzdem wissen:
Die Strassen sind im Norden deutlich besser, die Schlaglöcher werden weniger und der Benz goutiert das mit einem ruhigen Lauf.
Nur in Brandenburg ist dem gemeinen Bürger das Angeln von Friedfischen noch ohne Fischereiprüfung erlaubt. Überschreitet man die Grenze nach Mecklenburg – und sei es auf dem gleichen Gewässer – droht zumindest theoretisch Strafe, wenn man keinen Schein vorweisen kann. In Brandenburg genügt der Erwerb einer Tageserlaubnis und gut ist es.
Überschreitet man nun die imaginäre Grenze gen Norden scheinen die Dörfchen deutlich geordneter, wohlhabender, gelegentlich schon etwas spiessig.
Daneben, aus DDR-Zeiten selig, schnell privat fortgeführte Feriensiedlungen, damals von Großbetrieben und staatlichen Institutionen für ihre Mitarbeiter errichtet. Waren es früher oft zeitgemäße, wenn auch einfache Barackenbauten, sind es jetzt schmucke Ferienhäuschen mit allem Schnick-Schnack. Die Buchung ist telephonisch oder per eMail möglich, überall hängen Kästen mit Flyern. Kontaktiert man die angegebenen Telephon-Nummern landet man regelhaft in Hamburg, Niedersachsen oder auch einmal in Schleswig-Holstein, Einheimische sind wohl nicht so unbedingt in größerer Zahl präsent. Es ist erstaunlich, wie vielen Wessis die Ost-Oma selig die Grundstücke vermacht haben müssen. Behauptet wird, man habe sich nach der Wende die Filetstücke für’n Appel und’n Ei von den gutgläubigen Ossis ergaunert, das möchte ich aber ins Reich übler Nachrede verweisen.
Irgendwie kommt mir beim Schlendern über den Sand Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ ins Gedächtnis, uraufgeführt am 29. Januar 1956 am Schauspielhaus Zürich.
Ihr erinnert Euch?
Güllen, eine bei Dürrenmatt imaginäre und bitterarme Kleinstadt, erwartet die Ankunft der Milliardärin Claire Zachanassian, die glaubt mit einigen Leuten in Güllen, speziell mit Alfred, der sie seinerzeit geschwängert und sitzengelassen hatte, noch eine Rechnung offen zu haben. Sie verlangt das Alfred von den Bürgern Güllens getötet wird, dafür stellt sie ihnen eine exzessiv hohe Summe in Aussicht, die sowohl an die Stadt und an die Bürger persönlich gehen soll. In drei Akten zeigt er uns dann den rasanten moralischen Verfall der Stadt und seiner Bürger, sofern nur genügend verfügbares Geld in Aussicht steht.
Ich frage mich, warum mir gerade dieses Stück in den Sinn kommt, als ich den halb aufgekauften Osten sehe?
Über den Sand kommt mir eine alte Dame entgegen, nicht aufgedonnert wie Claire, wohl aber sehr gepflegt. Auf den ersten Blick schätze ich ihr Alter so gegen Ende 70, Anfang 80, sehr gerade laufend, vor ihr trottet ein schlanker brauner Hund unklarer Provenienz, der sich keinen Deut um ihre Befehle schert.
Wir kommen ins Gespräch, sie ist sehr sympathisch und redet fast schneller als ich denken kann. Innerhalb weniger Minuten erfahre ich, dass sie und ihr Mann in Berlin, OstBerlin wohnen, dort als Ingenieure verantwortlich tätig waren. Nach der messerscharfen Vernichtung ihrer früheren Betriebe durch die Treuhand stand das überflüssige Invertar des Unternehmens zum Verkauf und es gelang ihnen, zwar nicht für’n Appel und’n Ei, sie waren schließlich keine Wessis, aber für den überhöhten „marktüblichen Preis“ einen der kleinen Bungalows der ehemals betrieblichen Ferienanlage in einer traumhaften Waldlage zu erwerben. Seitdem verbringen sie das Sommerhalbjahr nicht mehr im 9. Stock eines Hochhauses in Marzahn, sondern in Mecklenburg. Bedauern liegt in ihrer Stimme, als sie erzählt, dass sie jetzt ihre Radtouren mit dem E-Bike unternehmen müssen. Ihr Mann sei immerhin bereits 84 Jahre.
Diese alte Dame und ihr Mann haben offenbar den Claire Zachanassian’s aus Hamburg, Niedersachsen oder auch einmal Schleswig-Holstein wirklich ein Schnippchen geschlagen.
Ich weiss, dass Schadenfreude kein gutes Gefühl sein soll, an der Stelle verspüre ich keinerlei Lust sie zu unterdrücken.