Reisen bildet …
Als Kind, wohl behütet in der DDR aufwachsend, spielte sich unser Leben in engen Grenzen zwischen Kap Arkona und dem Fichtelberg, zwischen Oder und Werra ab, was mich nicht davon abhielt von – unerreichbaren – Reisen durch die große, weite Welt zu träumen. Alles jenseits meines kleinen geographischen und sozialen Horizonts erschien mir spannend, je weiter weg, desto interessanter.
Mit zunehmendem Alter wandelten sich meine Erwartungen.
Literarische Vorlagen gab es so viele nicht, Larry Page, Sergey Brin und Google waren noch nicht geboren, ansonsten achtete man von Staats wegen verlässlich darauf, dass wir nichts „Unrechtes“ zwischen die noch nicht gichtigen Finger bekamen.
Regten zuerst die Märchen in DEFA-Film-Form meine Gedanken kreativ an – ich liebte als Junge Angelika Domröse abgöttisch, waren es später die originalen Reiseberichte von Hanzelka und Zikmund, die erfundenen von Karl May oder die auf dem Index stehenden Bücher von Hans Dominik.
Mal war ich außen stehender Beobachter, mal wähnte ich mich aktiv mittendrin und war mir sicher, dass ich jedes der beschriebenen Abenteuer genauso, wenn nicht gar besser bestanden hätte.
„Der gestiefelte Kater‘ hätte ich genauso sein wollen, wie ‚Robin Hood‘ oder ‚Kara ben Nemsi‘, den Droste in ‚König Laurins Mantel‘ hätte ich besser gegeben und die futuristischen Abenteuer in Stanisław Lem’s Romanen hätte ich mit Intelligenz, Kraft und Chuzpe auf jeden Fall problemloser bestehen können, als seine Originalakteure, an deren Handlungen ich regelhaft etwas zu kritisieren hatte. Ich muss wohl ganze Nächte damit zugebracht haben, darüber zu sinnieren, was ich alles hätte und könnte, wenn man mich nur liesse. Es liess mich niemand, also blieb es beim profanen Schulbesuch, das einzige Abenteuer war das morgendliche Erledigen der Hausaufgaben, wofür mir genau 45 Minuten zur Verfügung standen. Gefährlich war das auch nicht, nur die Zeit drängte.
Richtige, lebendige Abenteuer fanden mit Ausnahme einiger Jugendstreiche nicht statt. Calciumcarbid in Wasserflaschen vor Haustüren, echte Terroristen würden heute darüber nicht einmal lächeln, geschweige denn mit den Wimpern zucken.
Nach der Pubertät kamen romantische Gefühle in Mode. „Die Akten des Vogelsangs“ würde heute kaum noch jemand lesen, die „Wanderungen“ von Fontane würde der moderne Mensch, statt zu laufen einfach googeln oder Garmin bemühen.
Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ oder E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ würden so gut wie niemand mehr hinter dem Ofen hervor-, geschweige vom Smartphone weglocken. Edgar Allan Po’s „Sturz in den Malstrøm“ würde den durch täglichen Horror gestählten Neuzeitmenschen langweilen. Von „Wassergrube und Pendel“ glaube ich noch heute zuweilen in ganz stillen, spannungsgeladenen Augenblicken das sich nähernde, zischende, scharfe Pendel zu hören, den mal kalten, mal heissen Luftzug zu spüren.
Viel habe ich gelesen, ich habe das Gefühl es waren tausende Bücher. Das meiste davon habe ich wieder vergessen, einige Bücher habe ich verarbeitet, wenige könnte ich heute noch aus dem Stegreif rezipieren.
Ich kann es nicht begründen, aber von diesen ganzen Dingen kleben die „Wanderungen“ Theodor Fontanes seit Jahrzehnten an mir wie frische Hundescheisse an nagelneuen weissen Sneakers.
Übrigens, Fontane wäre geboren am 30. Dezember 1819 heuer – genauuu – 200 Jahre geworden, würde der alte Knabe noch leben.
Neben den „Wanderungen“ und der in der Schule bis zum Erbrechen widergekäuten „Effi Briest hat Fontane unter anderem noch den Abel Hradscheck und seine Frau Ursel zu bieten. Nicht umsonst gilt die Novelle als eines der ersten Werke im damals noch recht neuen literarischen Kriminalgenre.
Immer mal wieder lese ich ein Stück der „Wanderungen“, nie in toto, finde zwar bis auf Ortsnamen die beschriebene Realität heute nicht wieder, schätze die Ruhe und die Beständigkeit, die mir zwischen den Seiten konserviert scheinen
„Unterm Birnbaum“ hat übrigens nichts mit dem Birnbaum vom Ribbeck zu tun, bietet aber für die damalige Zeit interessante psychologische Elemente im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung und Ächtung von Tätern und Verbrechen.
Also lange Rede kurzer Sinn, auch in diesem Jahr steht wieder – nicht die komplette Wanderung durch die Mark Brandenburg, wohl aber ein Besuch bei Fontanes rund um Neuruppin und Rheinsberg an.
Karl May liess seine Helden hinter Kara ben Nemsi durchs „Wilde Kurdistan“ reiten, wir wandern dagegen durch Dunkeldeutschland.