Ein Kind wurde gestern in London von der Aussichtsplattform im 10. Stock geworfen, fiel auf ein Dach, 5 Stockwerke tiefer, erlitt schwerste Verletzungen und heute kam die Information, dass der Zustand des Kindes „kritisch, aber stabiler sei“.
Die Mutter des Jungen hat den Mordanschlag offenbar aus nächster Nähe erlebt genau wie viele Besucher der Tate Modern, die weltweit zu den größten Museen für zeitgenössische Kunst gehört.
Ein Mensch wirft ein Kind bewußt 5 Stockwerke in die Tiefe und nimmt dabei in aller Öffentlichkeit den Tod bewußt in Kauf.
Ich kann und will mir nicht vorstellen, was gerade die Mutter erlebt haben muss und wie sie leidet.
In den Medien fand das Verbrechen bisher wenig Raum, da wo es erwähnt wird, war meist von einem „Teenager“ die Rede, der einen 6 Jahren alten „Jungen“ vom Dach gestoßen habe.
Der Begriff „Teenager“ ist selbst bei mir altem Knochen positiv konnotiert, automatisch entwickelt sich das Bild eines jungen Menschen, bei mir naturgemäß eines Mädchens, mit ansprechendem Äußeren, einer positiven Ausstrahlung und einer gewissen Sehnsucht, weniger „Schwermut“ im Herzen, wenn ich an meine eigene, weit zurückliegende Jugend denke.
Also, der Teenager verbindet sich bei mir nicht mit einem Menschen, der ein schweres Verbrechen, in dem Fall gegen das Leben eines Kindes, begangen hat. Der Teenager steht für Leben. Unsere Medien empfinden dies offenbar ganz anders.
In Frankfurt hat vor wenigen Tagen ein „Mann“ eine Mutter und ihren 8 jährigen Sohn vor einen einfahrenden ICE geworfen. In der Presse stand primär „geschubst“, so wie in Voerde, als auch ein „Mann“ eine Frau vor einen Zug „schubste“, die Frau starb.
Der Begriff „schubsen“ erinnert mich an unsere kindlichen Rangeleien früher auf dem Schulhof oder in der Sportstunde. Wenn wir Mädchen necken und als Pubertierende balzen wollten, „schubsten“ wir, um Aufmerksamkeit zu erregen, manchmal nur um des Reizes der körperlichen Berührung mit Mädchen willen, aber keinesfalls um jemand zu schaden, zu verletzen oder gar zu töten. Also, emotional ist auch „schubsen“ ein positiv konnotierter Begriff, im Kontext mit London, Frankfurt oder Voerde somit nach meinem Sprachempfinden der Inbegriff der Relativierung.
Der Mörder von Frankfurt stand nach wenigen Stunden vor uns, wie ein offenes Buch. Wir lernten, dass er Habte A. heissen soll, eine schwere Zeit in seinem Geburtsland Eritrea hatte, vor Jahren in die Schweiz ging, dort als „vorbildlich integriert“ galt, sogar zeitweise arbeitete, eine Familie und Kinder hatte, dass er zwar auffällig und „polizeibekannt“ geworden sein sollte, aber alles nichts Schlimmes, nur häusliche Gewalt, eine Nachbarin soll er mit dem Messer bedroht haben. Es ging alles so locker von der Zunge, dass letztendlich auch wieder das Bild eines eigentlich durch und durch positiven Menschen gezeichnet wurde, der durch einen – nicht bekannten – Zufall in eine schlimme Sache geraten ist. Nach einigen Tagen wurde über eine psychiatrische Behandlung konfabuliert, wahrscheinlich wäre dies der Grund für das „Versagen“ im Einklang mit seiner Lebensgeschichte.
Jeder, der allein dieser Berichterstattung folgte, hatte ein im Grunde positives Bild von Habte A. und nur die Umstände waren gegen ihn. Vielleicht hatten die Opfer auch nur zu nahe an der Bahnsteigkante gestanden. Da müsse man in Zukunft besser aufpassen.
Habte A. hat einen Namen, ein Gesicht, die Medien jaulten einige Tage laut auf, die Politiker – mit Ausnahme der Kanzlerin – überboten sich in den inzwischen sattsam Betroffenheitsübungen, der Innenminister unterbrach sogar seinen Urlaub zu einer Krisensitzung mit den Chefs der Sicherheitsorgane.
Von seinem Opfer wissen wir lediglich, dass er wahrscheinlich 8 Jahre alt und männlich war, kein Name, kein Gesicht, keine Angaben zu seinem bisherigen Leben, namenlos, gesichtslos. Getarnt wird dies mit einer imaginären Sorge um die Opfer.
Im Dezember 2016 verletzte und ermordete Anis Amri auf einem Berliner Weihnachtsmarkt viele Besucher. Wenige Tage später wurde er in Mailand, welch Zufall, exekutiert, ohne dass irgendeine Einvernahme hätte erfolgen können.
Wochen- und monatelang waren die Medien voll von Anis Amri, von Überlegung, warum, weshalb er das Attentat begangen hätte. Seine Opfer spielten keine Rolle, es dauerte Wochen bis sich die Kanzlerin persönlich äußerte, bis heute haben die Opfer kein Gesicht. Von Anis Amri wissen wir alles, was irgendwie zu eruieren war.
Menschen, in diesen Fällen Opfern von Gewalttätern, keinen Namen, kein Gesicht zu geben ist eine wirksame Methode um das Vergessen zu forcieren.
Den Tätern gibt man Namen und Gesicht, die Opfer lässt man anonym und vergisst sie, lieber heute als morgen.
Die Blumen am Bahnsteig in Frankfurt werden bald verblüht sein, nachts wahrscheinlich wird eine Reinigungsbrigade die Reste entsorgen, so wie Menschen durch die Täter entsorgt worden sind.
Und man wird hoffen, dass die Opfer schnell vergessen werden, da sie nicht in das Bild der Fiktion einer heilen Welt passen, in der Vermutungen über das Klima in 100 oder 200 Jahren zur neuen Religion erhoben werden.
Aber dies ist ein anderes Problem, oder doch auch nicht.
Für mich sind die Namenlosen wichtig, sie und nur sie sind die Opfer. Der Täter mögen sich die Richter annehmen oder meinetwegen auch die Mitgefangenen im Knast, die für diese Art Täter ein hohes Gerechtigkeitsbedürfnis entwickeln.
PS: Gerade lese ich in der regionalen Tageszeitung einen offenbar kritiklos von einer Agentur übernommenen Artikel:
„Was tun gegen Schubser?“