… Mitglied der Kirche zu werden ist nicht schwer.
1949, ich werde geboren, meine Eltern der Kirche gehörten der evangelischen Kirche an, warum auch immer, zumindest habe ich sie in der Kirche nie gesehen, nicht einmal geheiratet haben sie dort. Aber die Oma, die Oma brauchte eine neue Orientierung nachdem der Führer sein Volk in schnöder Weise verlassen hatte und mit ihm hatte sie auch ihre klare Orientierung verloren.
Der Mittelpunkt ihres Lebens in der kleinen Gemeinde Dittelstedt wurde der Pfarrer der Gustav-Adolf-Kirche auf dem Herrenberg, wir Kinder nannten ihn den Rabenhügel.

Oma Anna ist im Kirchenrat, zuständig für die Tagungen des Kirchenrates, jede Woche Freitag in der Wohnung des Dorfpfarrers, sie reinigt die Kirche, bereitet die Gottesdienst vor, kümmert sich mit strengem Blick um das Füllen der Kollekte, niemand wagt sich an ihr vorbei ohne etwas hineinzulegen.
Ich werde geboren, niemand hatte mich gefragt ob ich das wollte, niemand schert sich auch um meine Meinung, ob ich Glied der Kirche werden will. „Er wird getauft, basta“, Oma Anna entscheidet.
Nach Jahren, Konfirmantenunterricht ist angesagt, hat ein 13 Jähriger Lust zum Konfirmantenunterricht? Natürlich nicht, also wird geschwänzt. Der Pfarrer wird zu Hause vorstellig, den Vater interessiert es nicht, die Mutter hat von Haus aus keine Beziehung zur Institution Kirche und Oma Anna ist schon alt.
Meine Mutter und der Pfarrer gehen einen Deal ein: Damit Oma Anna nichts von meiner Verfehlung erfährt tauscht der Pfarrer Schweigen gegen Kuchen.
Meine Mutter liefert auf streng freiwilliger Baisis dem Pfarrer jeden Freitag einen frisch gebackenen Kuchen für die Tagung des Kirchenvorstands!
Meist war es ein Aschkuchen, der war wohl am Schnellsten zubereitet.
Und jeder war’s – eine Weile lang – zufrieden: Der Pfarrer hatte seinen kostenlosen Kuchen, er galt gemeinhin in Dittelstedt als Schnorrer, Oma Anna war, wenn auch schaumgebremst stolz auf ihre kuchenliefernde Schwiegertochter, meine Mutter hatte ihre Ruhe und ich Freizeit.
Bis, ja, bis meine Mutter eine Patenschaft übernehmen wollte. Dazu brauchte es einer Bestätigung des Pfarrers, dass sie ihr Kind im Sinne des Herrn erzog – und das hiess: Konfirmantenunterricht für mich. Und ich wollte Freizeit!
Lange Rede kurzer Sinn: Ich ohne Unterricht, meine Mutter ohne Papier … und den Pfarrer erreichte ab sofort kein Kuchen mehr!
Den Höhepunkt des kirchlichen Streites konnte ich miterleben: der Pfarrer stand in unserer Küchentür, um a) um gut Wetter und b) weiter um den wöchentlichen Kuchen zu bitten.
Meine Mutter mit hochrotem Gesicht, sie neigte dazu und bis zu ihrem Tode konnten die Menschen in ihrem Umfeld die Stimmung der Oma an der Röte ihres Gesichts ablesen und sich bei Bedarf rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Die Hände ununterbrochen an der Küchenschürze abwischend, steht sie mit hochrotem Gesicht vor dem Pfarrer und bringt es in ihrer gewohnt nachsichtigen Weise auf den Punkt: „Den Wisch geben sie mir nicht, aber jede Woche fressen sie meinen Kuchen!“
Der Pfarrer hat nie wieder einen kostenfreien Kuchen bekommen, meine Mutter nicht ihren „Wisch“ und ich hatte Freizeit.
Wenige Tage später musste mein Vater den Kirchenaustritt der Familie auf dem Erfurter Standesamt erklären.
So verlor die evangelische Kirchgemeinde ein Gemeindeglied.
Bis, ja bis zu meiner Heirat!
Meine Frau ist/war Kirchenmitglied und wir sind/waren gemeinsam steuerveranlagt, also zahlte ich weiter fleissig Kirchensteuer, das Geld nimmt die Kirche gern, auf meine aktive Mitarbeit hat man mich über Jahrzehnte nie wieder angesprochen.