Sießer seled …

.. in den vergangenen Wochen war der Himmel über der Stadt grau gewesen, heute nun der erste schöne Tag in Hamburg, ein dienstliches Gespräch, danach ein Gang, hastig, mit aufgesetzter Verbindlichkeit, durch die Straßen hin zur Alster, ein kurzes gemeinsames Mittagessen, mehr Höflichkeit, denn persönliches Anliegen.

Gegenüber dem altehrwürdigen, seit mehr als 100 Jahren am Ort eingesessenen Hotel, nehmen wir auf der Terrasse direkt an der Binnenalster Platz. Schnell lerne ich aus der Präsentation, dass ich ‚auf diese Möglichkeit auch bei kühlem Wetter unter Heizpilzen wohlige Wärme an einem lauschigen Plätzchen genießen, mich durch erstklassige Speisen und einen hervorragenden Service verwöhnen zu lassen, immerhin gestandene 109 Jahre gewartet habe’. Na gut, sei es wie es sei …

Ledergebundene Speisenkarten, bevor ich einen Blick in die Auflistung, ‚erstklassiger Speisen’, werfen kann, „ .. was wollen wir essen?“ Eigentlich ist es keine Frage, ein Vorschlag, es klingt wie: „sießer seled“, beifälliges Murmeln, „sießer seled“! Vorstellen kann ich mir darunter nichts, süßer Salat? Meine Mutter machte früher immer süßen Salat. Grüner Salat in Milch und mit Zucker bestreut, eine Reminiszenz an meine Kindheit, warum nicht? Auf jeden Fall nicke ich, als ich imperativ gefragt werde, ob ich mich anschließe.

Einige Minuten Zeit, ein müde plätscherndes Gespräch, Vater und Sohn wollen in den nächsten Tagen zusammen angeln; „ … an der Nordsee?“, fast mitleidig die Antwort, „ … nein, wir fliegen nach Marokko“. „Weißt Du noch das Essen, damals in dem tollen Restaurant? Wo war das doch gleich? Ach so ja, das war doch, als wir das letzte mal über’s Wochenende in San Francisco waren..“. Ein kurzer Einschub zur Qualität von Trinkwasser in Deutschland, immerhin ist einer der Herren am Tisch Master Sommelier… Ich verstehe immerhin, dass das Trinkwasser aus den Leitungen Leipzigs von hervorragender Qualität mit sehr angenehmem Geschmack, wenn auch mit einer leichten Kork-Note ist.

‚Sießer Seled’ wird serviert, junge Männer mit langen weißen Schürzen kredenzen die Teller mit wichtigster Miene und filmreifem Schwung, dreimal ‚sießer Seled’ mit Riesengarnelen, für den Außenseiter, mich, gibt es ‚sießen Seled’ pur. In dem Augenblick bedauere ich leicht Vegetarier zu sein, würden auf meinem winzigen Teller mit kleingehacktem Salat sonst doch wenigstens noch drei Garnelen zu erwarten sein. So finde ich einige, wenige Bissen gehäckselten Salat mit etwas Dressing, 2 halbe Cocktailtomaten, vielleicht war es vorher sogar eine ganze, ein paar Krümel geraspelten Käse, dazu doch tatsächlich 2 Salzstangen…

Ich esse meinen ‚sießen Seled’, aus den kleinen, tiefen Tellern sind die Salatkrümel schlecht heraus zu bekommen, so verwundert es mich nicht, dass ich mich noch mühe, als die Anderen schon ihren Teller mit beifälligen Geräuschen garniert geleert haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich wahrscheinlich mehr Energie investiere, um die Salatschnipsel vom Teller zu klauben, als diese ‚erstklassige’ Speise meinem Körper zuführen wird. Aber immerhin habe ich 109 Jahre darauf gewartet, dass ich dies hier über der Alster erleben darf… Mahlzeit!

Das Gespräch strebt seinem Kulminationspunkt entgegen, dreht sich um soziale Differenzen in diesem, unserem Land, um die soziale Schere, die immer weiter auseinander klafft, um soziale Spannungen, die sich daraus entwickeln, um „Rechts und Links“, um Rattenfänger und Dekadenz …

„Nein, mit der Karte können Sie hier leider nicht bezahlen mein Herr,“, es tut dem schwitzenden jungen Kellner sichtbar leid, er krümmt sich bei der Ansage, als erwarte er für diese schnöde Auskunft zur hingehaltenen Platin Card persönlich Prügel, „… leider funktioniert unser kabelloses Lesegerät heute nicht über die Straße bis zum Mutterhaus…“, er sagt tatsächlich „Mutterhaus“, verhaspelt sich, Schweißperlen stehen auf seiner Stirn … er tut mir leid, Dekadenz?

Im Aufstehen werfe ich doch einen Blick in die ledergebundene Speisenkarte, ‚sießer seled’, finde ich nicht, nur ‚Caeser salad’. Später, zu Hause, lerne ich das es wohl wirklich etwas Besonderes sein soll, wegen des Dressings. Für mich ist es in diesem Moment nur kleingeschnittener Salat mit Soße und zwei Salzstangen, von dem ich dazu noch nicht einmal satt geworden bin, aber ich bin chauvinistisch froh, meine Unkenntnis nicht am Tisch gezeigt zu haben.

Wir steigen von der Terrasse einige Stufen in Richtung oberes Alsterufer, auf der Treppe sitzen zwei Stadtstreicher mit ihren Hunden und mich beschleicht Unbehagen bei dem Gedanken, dass das Geld für unseren ‚sießen Seled’ Mann und Hund sicher eine Woche satt gemacht hätte. Ich versuche auszuweichen, um nicht über die demonstrativ ausgestreckten Beine der Beiden steigen zu müssen. Es gelingt mir nicht, ich blicke weg, Dekadenz … ?

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