Der kleine Mann …

Ein Grundschüler, 2. Klasse, an einem Freitag im Jahr 1956, ein angenehmer Tag ist dieser 2. März. Ein Frühlingstag, noch frisch zwar, die Sonne scheint. Noch trage ich meinen Wintermantel, Lodenstoff, grün, bis über das Knie nach unten reichend, ich weiß, daß meine Mutter diesen Mantel genäht hat, aus einem alten Mantel des Großvaters, aufgetrennt, zerschnitten, neu zusammen gesetzt, an Manchen Stellen sieht man noch die alte, aufgetrennte Naht auf dem Stoff schimmern, kleine Löcher zeigen den Verlauf der Stiche, die grüne Farbe ist häßlich, aber der Mantel ist warm.

Ich weiß, ein anderer Mantel wäre nicht möglich gewesen, Geschwister, von denen ich ein abgelegtes Kleidungsstück übernehmen könnte habe ich nicht, Geld ist knapp in der Familie,  außerdem gibt es wenig Neues in Ostdeutschland, in der Ostzone, oder in der DDR wie es jetzt seit einiger Zeit heißt. Deutsche Demokratische Republik, das habe ich in der Grundschule von meiner Lehrerin schon gelernt, DDR heißt dieser neue Staat.

Auf dem Weg nach Hause sehe ich wie immer bei der Großmutter vorbei, die Großmutter hat Zeit, ist nicht ständig in Hektik, außerdem hat er Neues zu berichten, Dinge, die ich heute in der kleinen Zwergschule gelernt habe.
Zwergschule? Zwei Klassen werden von einer Lehrerin unterrichtet, in einem Raum, nicht sehr groß, zwei Reihen von Schulbänken. An der Wand, links eine Reihe für die erste Klasse, jeweils Doppelbänke, zwei Schüler neben-, vier Bänke hintereinander, an der Fensterseite das gleiche Arrangement für die Zweitklässler. Ich sitze noch links, Erstklässler, bald werde ich Zweitklässler sein, bei den Großen, nicht mehr der Kleine.

Der Unterricht gestaltet sich schwierig, eine Lehrerin unterrichtet in einem Raum zwei unterschiedliche Klassen, unterschiedlichen Stoff, eine Klasse ist immer aktiv, die andere hat Stillbeschäftigung, eine rechnet, die andere schreibt inzwischen irgendeinen Text.

Manchmal habe ich natürlich auch schon das Glück gehabt mit den Großen zusammen zu sein, beim Sportunterricht etwa, wenn Völkerball auf dem kleinen Dorfsportplatz gegenüber der Schule gespielt wird. Völkerball, da sind die 7 Kinder der Ersten und die 6 der Zweiten natürlich einzeln zu wenig, da dürfen beide Klassen zusammen ran.

Oder beim Pionierappell, jeden Montag vor der ersten Unterrichtsstunde, oder besser in der ersten Unterrichtsstunde. Die Schüler beider Klassen treten dann in zwei Reihen auf dem Bürgersteig vor der Schule an, vorn die Erste, hinten die Zweite, weil die größer sind, der Gruppenratsvorsitzende der Zweiten meldet der Lehrerin das alle Schüler zum Appell angetreten sind, die Lehrerin dankt, sie erzählt dann irgendetwas, wir singen ein Lied, bummeln noch etwas herum, dann geht es zurück in die Klasse.

Heute hatte die Lehrerin beide Klassen zusammengenommen, das heißt in der 1. Stunde hatte sie gesagt, bitte alle mal aufpassen, ich muß Euch was Wichtiges sagen, wie sie das sagte, klang wichtig, und entsprechend fühlten wir uns auch wichtig.

Etwas Wichtiges hatte sie uns zu sagen! Sie sprach vom Krieg, sie sprach von der DDR, sie sprach von Westdeutschland und davon, das jeder Staat sich schützen muß. Wir wußten nicht, wovor sich unser Staat schützen mußte, aber wir verstanden, daß am Tag zuvor, am ersten März 1956 die DDR ihre eigene Armee gegründet hatte, sie nannte sie NVA und wir erfuhren, daß dies Nationale Volksarmee heißen sollte.
Krieg hatten wir, auch wenn wir noch die Kleinen waren, schon oft gespielt. Meist getrennt in zwei Parteien, die Roten und die Blauen. Die Roten wollten wir alle sein, Blau sein, war nicht so begehrt, da es Usus war, daß die Blauen am Ende immer zu verlieren hatten. Warum das so war, wußten wir nicht, es war auch nicht wichtig.

Jetzt hatten wir also unsere eigene Armee.

Sie sagte das sehr wichtig, wiederholte es mehrfach, und wir spürten den Hauch der Bedeutung, wir hatten eine eigene Armee. Nicht nur die Russen, der Ami, der Engländer, der Franzose hatten Männer in Uniform, die uns damals täglich in ihren Jeeps auf Deutschlands Straßen begegneten, natürlich meist die Russen, wir wohnten in Thüringen, aber die Westmächte bekamen wir auch öfter zu sehen. Die hatten die schöneren Autos und die schickeren Uniformen und wir fanden es faszinierend, wenn die Ami’s vorbeifuhren, oft lässig ein Bein aus dem Jeep heraus auf den vorderen Kotflügel gestellt, der Fahrer das linke, der Beifahrer das rechte Bein, manchmal bekam man ein Stück Schokolade, wenn man sich als Kind bemerkbar machte, manchmal aber auch nicht. Mit den Russen konnte man versuchen zu reden, meist wirkten sie selbst wie verängstigte kleine Kinder, die Franzosen waren absolut unnahbar, wir nahmen sie, strafend, nicht zur Kenntnis, und die Tommy’s, na ja.

Wir hatten also endlich auch unsere Armee, die uns beschützen würde. Die Lehrerin hatte auch erzählt, daß die Armee den Frieden verteidigen würde. Ja aber, warum sollte denn gerade unsere Armee den Frieden verteidigen, eine Armee hatte zu kämpfen, zu schießen, peng, peng, so wie wir es tagtäglich, im Straßengraben liegend, übten. Es gab viel zu diskutieren.

Es fiel uns schwer danach zum normalen Unterrichts zurückzukehren, und auf dem Heimweg von der Schule mußte ich die Neuigkeit sofort loswerden. Die Bäckersfrau, bei der ich für meine einzigen fünf Pfennige extra ein Brötchen kaufte, nur um die Nachricht an den Mann zu bringen, reagierte auf meine eilig vorgetragene Mitteilung von unserer neuen Armee gar nicht, willst Du noch etwas, nein, fünf Pfennig! Ihre Hand kam über den Tisch, die offene Handfläche nach oben, fünf Pfennig von mir, eine Semmel von ihr. Ich hätte die Semmel schon nicht mehr haben wollen, wenn sie sich doch für meine wichtige Nachricht so garnicht interessierte, aber jetzt zu kneifen wagte ich mir auf Grund ihres strengen Blickes auch nicht.
Weiter, Mutter auf Arbeit, loswerden mußte ich meine Neuigkeit, also zur Oma.

Sie, zum Glück zu Hause, in der Küche, beim Kartoffelschälen, mit ihren streng nach hinten gekämmten und zusammengebundenen weißen Haaren, das Essen ist noch nicht fertig, willst Du eine Tasse Milch und ein Brötchen mit Öl? Gemeint ist das Öl aus der großen Flasche, Mohnöl, das sie jedes Jahr selbst preßt, ein kleiner Schluck wird auf eine Untertasse geschüttet, das Brötchen eingetaucht und gegessen, eine Delikatesse.
Ich zapplig, aufgeregt, ich habe ja eine sehr wichtige Nachricht, sie die Ruhe in Person, ‘zuerst setzt Du Dich hin und ißt’.

„Oma, wir haben heute in der Schule gelernt, daß wir jetzt auch eine Armee haben, die NVA. Die wird uns verteidigen.“

Sie scheint von meiner Nachricht garnicht berührt, eigentlich hatte ich erwartet, daß sie dies auch sehr wichtig finden würde. Ich wiederhole meinen Vers, sie antwortet lediglich abgewandt mit einem leisen ‘ja’. Ich bin enttäuscht.

Nach einigen Minuten, es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, setzt sie sich zu mir an den Tisch. ‘Weißt Du, ich bin schon alt, früher, als ich noch Kind war, hatten wir den Kaiser, dann kam Friedrich Ebert, später der Führer, jetzt haben wir den Walter Ulbricht und im Westen haben sie den Adenauer, immer neue Gesichter und Geschichten, aber der kleine Mann bleibt immer der kleine Mann.’

Damals, am 2. März 1956, einen Tag nach Gründung der DDR-Armee, habe ich den Satz noch nicht verstanden, ich war nur von ihr enttäuscht.

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