München Hauptbahnhof:
… im letzten Moment war ich mit dem Taxi angekommen, fast rennend, ICE nach Hamburg? Ein unsicherer Blick über den gelben Fahrplan, Bahnsteig 18, hastend, ein weißer Zug mit roten Streifen, eine offene Tür, vor dem Zugführer springe ich durch die Tür, bevor sich der Zug ganz sacht in Bewegung setzt … geschafft!
Platzkarte suchen, natürlich ganz unten in der übervollen, unordentlichen Tasche, seltsamerweise der richtige Wagen, Platz 36 – warum suche ich eigentlich die Platzkarte, der Wagen ist fast leer? Egal …
Eine Doppelbank, Platz Nummer 36, dazwischen ein Tisch, dahinter eine Frau, vielleicht Mitte dreißig, sie ist schwer zu schätzen, sehr dick, der Tisch schon von ihr vollgepackt mit Tüten und Flaschen.
Ein flüchtiger Gruß, sie scheint ihn und mich kaum wahrzunehmen, hantiert mit Kopfhörern und ist zwischendurch mit dem Sortieren ihrer Tüten beschäftigt.
Irgendwie fühle ich mich eingeengt, ich weiß nicht ob von ihr und ihren Tüten oder vom Streß des zu Ende gehenden Tages, auf jeden Fall habe ich das Gefühl gegen die massige Frau, die mir gegenüber fast zwei Sitzplätze einnimmt, mein Terrain verteidigen zu müssen.
Ich greife ohne hinzusehen nach meiner Tasche, spüre Zeitschriften, ziehe sie heraus, GEO, die MAX, auf dem Cover eine sehr attraktive Frau, lege ich absichtlich obenauf, Schadenfreude verspürend, und ich versäume nicht vorher ihre Tüten auf dem gemeinsamen Tisch behutsam, „man ist ja höflich“, aber auch betont zusammen zu schieben. Ich ernte, wie erhofft, einen vorwurfsvollen Blick … und freue mich darüber.
München Pasing, Fahrzeit 6 Minuten, kurzer Halt, niemand steigt ein, das Drama beginnt.
Die Kopfhörer auf den Ohren greift sie zur ersten Tüte, eine braune Tüte, groß mit dem Aufdruck eines Bäckers, ein Griff, die Hand verschwindet in einer schier unendlichen Tiefe, als sie endlich wieder auftaucht hält sie ein großes Baguette wie in einer eisernen Klaue fest.
Ein heller Teig, groß, gut belegt, ich sehe Käse, Schinken, die Stärke des Belages konkurriert erkennbar mit der Dicke der Semmel, der Schinken und Käse gewinnen, nicht allein durch das Salatblatt welches komplettierend an den Seiten heraussteht. Schätzungsweise vier ausgesprochen kräftige, geradezu harmonisch anmutende Bisse, das Riesenbaguette scheint sich zwischen den geschmeidigen Bewegungen ihres Kiefers fließend aufzulösen. Ein Griff zu einer großen Cola-Flasche, ein Riesenschluck, der einem Ertrinkenden alle Ehre machen würde … eine Bewegung mit dem Handrücken über den Mund, sie ist fertig mit ihrem Abendmahl …
… die Bewegung der Hand geht fließend vom Mund weg, hin zur nächsten Tüte mit dem Logo einer großen Fast-Food-Kette, sie zieht sie auf, fährt hinein, wie der Blitz im Gewitter, sie arbeitet und kommt heraus mit einem kleineren Behältnis, dem sie kleine gebratene Fleischteile mit erneut schnellen Bewegungen entnimmt. Später erfahre ich, dass es frittierte Geflügelteile sind, 12 mal findet die Hand den Weg zum Mund, gleichmäßig, ohne hastig zu sein, sichtlich gewohnte Bewegungen, die Training verraten, noch ein kräftiger Schluck aus der Cola-Flasche.
Hastiges Zerdrücken des leeren Kartons, die Bewegungen wirken jetzt hektisch, ungeduldig, nichts mehr von der zeitlosen Eleganz des Essens, die Hände gehen in Ruhestellung, unschuldig gefaltet liegen sie auf einem runden Bauch.
Bahnhof Augsburg, Fuggerstadt, Fahrzeit 40 Minuten, Einfahrt in den Bahnhof, 8 Minuten Verspätung werden angesagt, niemand steigt in unser Abteil ein.
Die Räder rollen wieder, die Hände erwachen aus ihrem kurzen Schlaf, der Griff zur Bäckertüte, ein neues Baguette, diesmal noch etwas kräftiger belegt, auch mit Ei und irgendeiner Sauce. Die Zähne fahren kraftvoll am oberen Ende hinein, die Sauce unten heraus, der Schwerkraft folgend auf ihre Hose, sie zeigt menschliche Größe und ignoriert es.
Die Bisse werden etwas kleiner, sechs mal gilt es zuzubeißen und das Schicksal der großen Semmel samt Inhalt ist besiegelt, ein kurzes Schnaufen, die obligate Cola-Flasche, diesmal schon zur Hälfte gelehrt.
Sie greift zu einem Buch, ich hatte den Titel kurz vorher auf der Bestsellerliste eines großen Wochenmagazins gelesen, wer auch immer festlegen mag, was in Deutschland ein Bestseller zu sein hat.
Plötzlich, ich weiß nicht woher, kommt mir ein angeblich alter Spruch in den Sinn: „Ein voller Bauch studiert nicht gern“, sie scheint es zu können – alle Achtung.
Der Zug wird langsamer, hält auf freier Strecke kurz an, ihr Blick hebt sich vom Buch, richtet sich fragend auf das Abteilfenster, vor dem es dunkel ist, und von dort ein neues Ziel suchend nicht auf das Buch zurück sondern auf die Tüte der großen Fast-Food-Kette.
Wie ein Blitz leuchtet es in ihren Augen auf, als die fleischige Hand erneut in dem Behältnis verschwindet und wieder erscheint mit einem gigantischen Stück aus rundem Brötchen, geteilt durch einen Fleischklops, Käse, Tomate, Salat und verfeinert wiederum mit einer Flüssigkeit nicht zu definierender Farbe.
Es schaudert mich, die Erwartung eines erneuten Widerstandes gegen den gnadenlos zubeißenden Mund in Form einer aus dem Brötchen spritzenden und die Peinigerin beschmutzenden Brühe wird leider enttäuscht, das Gebilde ergibt sich scheinbar willenlos seiner Eliminierung.
Nach dem letzten Biß noch einen deftigen Schluck aus der inzwischen sichtbar leichteren Cola-Flasche, ein dumpfes Gluckern, sie ist leer. Ein zufriedenes Gesicht, ein Durchsage, dass der Zug in wenigen Minuten in Nürnberg einfährt.
Nürnberg, Fahrzeit 100 min: der Zug hält, das Drama endet.
Sie steht auf, nimmt ihre Tasche, packt die Köpfhörer ein, zurück bleiben auf dem Tisch vor mir leere und damit sinnlose Tüten und eine große ebenfalls inhaltslose Cola-Flasche, 1,5 Liter.
Der Wagen scheint sich zu bedanken, als sie den Zug verlässt und ich habe das Gefühl, dass er sich einige Zentimeter nach oben hebt.
Ich fühle mich schlecht, weil ich ihr fröhliches, zufriedenes und sattes „Auf Wiedersehen“ nicht erwidern konnte, der Speichel wäre mir aus dem Mund geflossen – ich habe seit Mittag nichts mehr gegessen.