Ich erinnere mich daran, dass es früher auf unserem Schulhof – so ungefähr bis zur Pubertät – eine strenge Hackordnung gab.
Oberflächlich dominierten die Älteren regelhaft die Jüngeren, die Größeren die Kleineren und innerhalb der jeweiligen Gruppen dann die Stärkeren die Schwächeren.
Was mir damals noch nicht so auffiel, weil ich es nicht wusste oder nicht darüber nachdachte: die Lauten dominierten regelmäßig die Leisen und die Mutigeren die Ängstlichen.
Eigentlich sollte man annehmen, dass in der Schulhierarchie die Klügeren die Schwächeren dominiert hätten, es war aber eher umgekehrt. Ähnlich ging es den Besonnenen, die meist keine Chance gegen die Draufgänger hatten.
Der unangefochtene „Hahn“ auf unserem Schulhof war über lange Zeit Volker.
Volker war in meiner Parallelklasse, er hatte ungefähr meine Größe, für ein Schulkind war er sehr muskulös, eine große Leuchte im Klassenzimmer war er nicht, hatte aber seine „Wasserträger“, die ihn abschreiben liessen und ihm verlässlich die Hausaufgaben „zuarbeiteten“.
Auf dem Schulhof war Volker der King, fast immer war er umgeben von Schwächeren, die an seinen Lippen hingen, über seine meist plumpen Witze lachten und sich in seinem Windschatten über noch Schwächere lustig machten, die Volker aus irgendwelchen Gründen gerade als Opfer ausersehen hatte.
Opfer konnte man werden, indem man anlasslos angerempelt und anschließend gleich verprügelt wurde. Opfer konnte man aber auch werden, indem er Schwächere öffentlich blossstellte, lächerlich machte, sie gezielt dem Spott seiner Anhänger aussetzte. Vielen tat dies dauerhaft mehr weh, als ein Tritt in den Hintern oder eine Ohrfeige.
Als Kind war ich zwar körperlich relativ stark, als Schüler ganz gut, irgendwie ein Einzelgänger und nicht unbedingt konfliktfreudig. Die Schar meiner Freunde war deshalb sehr überschaubar, was mich aber so richtig nie störte, ich bekam meinen Kram auch allein ganz gut auf die Reihe.
Mit dem Schulhof konnte ich viel nicht anfangen, hielt mich meist abseits, war mit mir und meinen Gedanken beschäftigt und hoffte somit dem Clan um Volker zu entgehen.
Das war ein Irrtum, gerade durch mein Abseits schien ich ihn irgendwie zu reizen, wurde zunehmend Ziel seines Spotts, zumal ich als Einziger in der Klasse eine Brille trug. Die Brille war ein hässliches großes Ding mit einem dicken schwarzen „Hornrahmen“. Die Brille schien ihn so zu reizen, dass er mir den Beinamen ‚Brillo‘ verpasste. Wenn er mich so ansprach sprangen die Gestalten in seinem Windschatten sofort an und der Tag war für mich gelaufen. Reagierte ich nicht genügend auf seine verbalen Angriffe wurde er körperlich aktiv, umarmte mich zuerst, fing an zu stoßen, mehrfach stürzte ich und war nicht überrascht, wenn ich anlasslos noch „eine fing“, also einen Schlag abbekam.
Über mehrere Monate war ich sein Lieblingsopfer, wobei ich es so empfand, als würde er sich gegen mich erst richtig warm laufen. Die Lehrer auf dem Schulhof, auf deren Hilfe ich setzte, hielten sich raus, ich hatte das Gefühl, dass selbst sie Angst vor ihm hatten.
Meine Freizeit verbrachte ich größtenteils mit Sport, da ich dabei allein sein konnte und mich nicht sehr mit anderen abgeben musste.
Zu meinen mühsam zusammengetragenen Sportgeräten gehörten zwei Hanteln, leider sind sie mir verloren gegangen, ich glaube, sie hatten jeweils so um die 10 Kilo Gewicht.
Je mehr mich Volker schikanierte, um so mehr verliebte ich mich in die beiden Gewichte, mit denen ich täglich, manchmal stundenlang beschäftigt war. Ich trainierte wie ein Wilder, meine Muskeln nahmen zwar nicht zu, was mir in enttäuschender Weise das Schneiderbandmass meine Mutter bei der täglichen Messung zeigte.
Allerdings stieg mein Selbstvertrauen und so habe ich – nach knapp 60 Jahren – noch den „bewussten Freitag“ vor Augen.
In der großen Pause hatte mich Volker wieder zum Ziel seiner Angriffe erkoren und er trieb es heftig. Er verspottete mich, schlug mir die Brille vom Gesicht und als ich mich danach bückte, trat er mich voll in den Hintern, sodass ich der Länge lang auf dem kleinteiligen Pflaster des Schulhofs landete. Die Menge um ihn herum johlte und es war eher ein unbewusster Reflex, denn bewusster Mut als ich sagte: „Wir treffen uns nach der Stunde auf der Strasse.“ Niemand war beeindruckt, die Menge johlte noch lauter, wenn ich nicht der Leidtragende gewesen wäre, hätte ich jede Wette gegen mich abgeschlossen.
Die nächsten 45 Minuten, die Länge einer Schulstunde waren nicht lustig, hätte ich gekonnt, hätte ich mich aus dem Staub gemacht, aber da war Volker vor.
Er wartete schon an der nächsten Ecke auf mich, umgeben von seine Wasserträgern, als er mich sah, tänzelte er wie ein Boxer und liess sich bewundern.
Kurz gesagt, er verpasste mir den ersten Schlag in den Unterbauch, am Ende sass er mit blutender, mehrfach aufgeplatzter Lippe am Gartenzaun, bei einem Sturz hatte er sich beide Knie aufgeschlagen und als ich den blutigen Rotz sah, der ihm aus der Nase lief hatte ich schon wieder Mitleid mit ihm.
Nie vergessen werde ich die Reaktion seiner „Anhänger“, die sofort die Seiten wechselten, als sie sahen, dass er von einem Anderen Prügel bezogen hatte und unterlegen war. Einer, der mich früher genauso ausgelacht und schikaniert hatte, sah sich berufen meine Jacke und meine Schultasche aufzuheben und mir zuzureichen. Nach heutigen Maßstäben war es falsch, damals für mich eine Genugtuung, als ich ihn mit aller Kraft, die ich hatte, gegen den Gartenzaun stieß, zwei Zaunlatten brachen, ihm war zum Glück nichts Schlimmeres passiert. Ich erinnere mich an mein triumphales: „Noch jemand …?“ Niemand wollte.
Volker und ich gingen dann zusammen nach Hause, er wohnte „bei mir um die Ecke“ und sein Vater war ein Arbeitskollege meines Vaters. Seine Dominanz auf dem Schulhof war vorbei, es dauerte nicht lange, bis ein neuer „Leader“ auftauchte, aber der war nur ein müder Abklatsch.
Von diesem Tag hatte ich auf dem Schulhof meine Ruhe, nach wie vor war ich meist abseits des lauten Treibens, aber das war für mich in Ordnung und ist es noch heute.
Wenn ich die Dinge vor meinem geistigen Auge so Revue passieren lasse, bin ich erschrocken, dass sich da – natürlich absolut unberechtigt – Parallelen zu unseren heutigen Politikern und ihrem Arbeitsstil auftun. Es kann doch nicht sein, dass es in der Politik in 2019 so zugeht, wie auf einem Schulhof in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts? Oder sieht da jemand von Euch doch auch diese Ähnlichkeiten? 😂