Vorsicht oder Soleier …

Gelegentlich übermannt mich der Leichtsinn und es quält mich der Wunsch Essen zu gehen.

Mit zunehmender Lebenserfahrung, weniger positiv Eingestellte nennen es profan Alter, ändern sich auch dabei die Befindlichkeiten und Präferenzen.

In jungen Jahren machte es mir nichts aus ganze Abende in der verräucherten und durch Körperausdünstungen geschwängerten Luft einer Kneipe zu verbringen.

Eine Vorzugsbehandlung genoss dabei eine alte Bierkneipe in Jena, am Ziegelmühlenweg / Jahnplatz, damals in direkter Sichtweite zur Pathologie der Uniklinik. Das wiederum war sicher purer Zufall und hatte mit der Zusammenstellung der Speisekarte nicht zu tun.

Nur wenige Tische, Stuhl an Stuhl, Rücken an Rücken, verraucht, ein einziger Kellner, meist total verschwitzt, ein Mann am Tresen, der beim Ausschenken des Bieres kaum mit dem Durst der fast ausschließlich männlichen Gäste Schritt halten konnte. Sobald der Kellner voll war, was meist nicht lange dauerte, holte man sich das Bier am Tresen selbst.

Offiziell gab es zwei Sorten von Bier: ‚Helles‘ und ‚Pilsner‘, der Unterschied bestand einzig darin, dass das Helle noch dünner war, als das Pilsner. Schaum hielt keine Minute, beim Hell bildete er sich gar nicht erst.

Auf dem Tresen stand immer ein sehr großes Weck-Glas mit in starke Salzlake eingelegten, hartgekochten Eiern, genannt Soleier. Wer Lust hatte fischte sich zu fortgesetzter Stunde, ersatzweise nach genügend Bier, ein solches Ei aus dem Pott und schob dem Wirt am Tresen eine Mark der DDR zu. Die Eier waren in der Regel so lange gekocht, dass der Dotter blau war. War er es noch nicht, wurde er es nach mehreren Wochen in der Salzlake, entstand ein leicht schwefliger Geruch. Dann waren die Eier ‚gut‘. Jeder griff mit seinen Händen in das Glas, fischte ein Ei, schälte es auf einen daneben stehenden Teller, der gelegentlich geleert wurde, sobald er übervoll war. Dann führte man das geschälte Ei mit den Fingern zum Mund, manchmal teilte man es auch mit dem dabei liegenden Messer. Jeder durfte dieses Messer benutzen.

Der Verbrauch von Soleiern orientierte sich typischerweise weniger an der Aufenthaltszeit, denn am Bierkonsum. Man musste trinken, sobald man etwas ergattert hatte und wenn gutes DDR-Bier auf dem Tisch auch nur im Ansatz schal wurde, war es nicht mehr genießbar. So floss das Bier anfangs schnell, im Lauf des Abends nahm der Fluss exponentiell ab.

In der Regel war die Kneipe so gegen 19.00 Uhr schon gut besetzt, die Freude später noch einen Stuhl zu ergattern glich dem Gefühl eines Vierers im Lotto. Ich hatte bis heute noch nie einen Vierer im Lotto.

Wer einen Stuhl hatte, versuchte sicherheitshalber den ganzen Abend nicht mehr aufzustehen, sonst konnte es sein, er war sofort wieder weg. Später liess die Sucht der Neuen nach einem leeren Stuhl nach, weil draussen jeder wusste, dass nach 21.00 Uhr drin alles voll war, der Raum, der Wirt und die Gäste. Dann wurde es erst so richtig gemütlich.

Die Toilette war ausgesprochen rustikal, am Handwaschbecken mit einem solitären Kaltwasserhahn, hing ein Textilhandtuch, Typ Malimo. Jeder durfte dieses Handtuch benutzen, nach Einweghandtüchern aus Papier hat niemand verlangt. Nach kurzer Zeit war das Handtuch triefend nass, zur Verbesserung der Hygiene hängte irgendeiner das Handtuch über das gekippte Fenster. Der Nächste nahm es dann wieder herunter und hängte es wieder neben das Becken. War es so nass, dass es überhaupt nicht mehr zum Trocknen taugte, wurden die Hände an der Hose abgewischt.

Das Wort Hygiene war ausgesprochen groß geschrieben, sogar die Tische wurden jeden Abend nach dem Zapfenstreich mit dem Lappen abgewischt, der vorher zum gelegentlichen Reinigen der belagerten Theke gedient hatte. Danach wurde er getrocknet, um bereit für den nächsten Abend zu sein.

Die Jenenser waren seinerzeit sehr tierlieb, wie es heute ist, kann ich nicht mehr sagen. Damals jedenfalls nahm man abends, so man hatte, seinen Hund mit in die Kneipe. Die Hunde lagen unter dem Tisch, zu Füssen der Herrchen. War das Herrchen besonders aufmerksam, bekam auch der Hund dieses und jenes schale Bier ab, was natürlich seine Blase füllte. Anfangs ging das Herrchen mit ihm nach draussen, später nicht mehr so zuverlässig …

Fast jeden Abend kam ein einbeiniger Kriegsversehrter in die Kneipe. Er war so schon schlecht zu Fuss, wurde mit entsprechendem Pegel immer unsicherer. So kam es durchaus vor, dass er unter dem Tisch entlang seines Stockes … Wahrscheinlich deshalb gab es einen Bodeneinlauf, wie sonst in der Waschküche.

Man hat nie gehört, dass sich jemand in der Kneipe infiziert hätte.

Heute hatte ich Lust auf einen Kaffee und einen kleinen Hunger zur Mittagszeit.

Da ich den Geruch von Gaststätten so richtig nicht mehr mag, nutze ich dafür ein Bäckereigeschäft meiner Wahl, hell, freundliche Bedienung, einige Tische für Sitzgäste.

Eine Portion Rührei mit Tomate und Mozarella, ein frisches, noch warmes Körnerbrötchen, ein Espresso, dazu unaufgefordert ein Glas Wasser.

Der Tisch frisch abgewischt, eine Mitarbeiterin schien ständig unterwegs um Tische und Stühle zu säubern und von den Krümeln des Backwerks zu befreien.

Für den Nebentisch interessieren sich wenig später zwei sehr junge Frauen. Eine sieht aus schrägem Winkel über die Tischplatte, „Der ist halbwegs sauber.“ Die Andere zückt aus einer mitgebrachten Packung desinfizierender Hygienetücher mehrere Teile und wischt gefühlt einige Minuten über die Tischplatte, nicht ohne danach auch noch ihre Hände gründlich von jeglichem Keim befreit zu haben. „Jetzt geht es.“

Mit einem Ohr verfolge ich ihr Gespräch, welches sich trotz Sagrotan vor allem um Infekte und andere Krankheiten dreht.

Ich frage mich, wie lange sie wohl seinerzeit in unserer Studentenkneipe überlebt hätten?

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