Der zitternde Hooligan

Er sitzt vor mir, zittert, der Schweiß läuft ihm rechts und links über das immer blassere Gesicht, tropft nach unten und hat schon Flecke auf dem ehemals weißen, jetzt grau wirkenden T-Shirt gebildet. Ich sehe, wie sich seine Hände um die Stuhlkante verkrampfen, er versucht sich festzuhalten und gerät gleichzeitig immer mehr in Panik, seine Gedanken und sein Kopf fahren mit ihm Karussell. Die Fingerknöchel werden weiß, weil er sich immer stärker anspannt und am Hals sind im Rhythmus des rasend schnellen Pulsschlags die Blutgefäße zu sehen.

Er ist für einen Mann klein von Statur, vielleicht knapp 1,70 m, schmale Schultern. Inzwischen liegt er – absolut kraftlos wirkend – mehr auf seinem Stuhl, als dass er sitzt.

Es ist nachts gegen, 2.00 Uhr, eine ruhige Sommernacht, etwas warm, sicher über die berühmten 20 Grad Celsius mit denen man eine Nacht als „tropisch“ klassifiziert.
Seine Stimme zittert, als erzählt, dass er geschlafen hat, dann vor einer Stunde aufgewacht ist, schweißgebadet, Herzrasen verspürt und sein Kopf mit ihm Karussell fährt, so als sei er völlig betrunken. 
Seine Stimme stockt, er rutscht nach vorn von seinem Stuhl, setzt sich zuerst, rutscht dann weiter und legt sich flach auf den Boden. Seine Hände suchen rechts und links des Körpers Halt, finden nichts, seine unruhigen Augen füllen sich mit Tränen und es scheint ihm wie eine kleine Erlösung als er im Liegen etwas Flüssigkeit erbricht.

Er rappelt sich jetzt auf, nimmt eine Handvoll grüner Papierhandtücher aus dem Spender an der Wand und wischt die erbrochene Flüssigkeit auf. Unsicher wirkt er dabei noch immer, sein Gang taumelnd, aber trotzdem etwas sicherer, so als sei er mit dem Erbrechen etwas übermächtig Belastendes losgeworden.
Als er damit fertig ist, setzt er sich zurück auf den Stuhl, immer noch schweißgebadet, im wahrsten Sinne des Wortes leichenblass, aber etwas ruhiger wirkend.

Erst jetzt, als die Dramatik des Augenblicks etwas nachläßt, nehme ich seine Tattoos wahr. Die linke Wange ist bis zum Haaransatz tätowiert, ein schlangenähnliches Wesen, welches neben dem linken Auge beginnend über Gesicht und Hals nach unten verläuft und unter dem nassen T-Shirt verschwindet. Beide Unterarme sind tätowiert, so stark, dass sie fast durchgängig schwarz mit etwas Farbe aufgelockert anmuten. Die Unterarme nicht sehr kräftig, dabei aber sehnig, Kraft scheint er trotz seines schlanken Körpers zu haben. Aus der kurzen Hose seines Schlafanzuges ragen die Beine heraus, dünne Waden und ebenfalls tätowiert bis zum Knie und wahrscheinlich noch ein Stück darüber hinaus. Unter dem Vorwand Herz und Lunge abhören zu wollen sehe ich mir den Rest des Körpers an, auch hier Tattoos über Tattoos. 
Jetzt bemerke ich auch die vielen kleinen Narben in seinem Gesicht, Augenbrauen, Nasenflügel, Lippen, Ohrmuscheln, jeweils besetzt mit vielen kleinen Narben, Stellen, an denen früher Piercings saßen. 

Langsam, ganz langsam beruhigt er sich, es dauert fast eine Stunde bis er wieder im „Normalbetrieb“ ist. 

Wir kommen ins Gespräch und stockend berichtet er, dass ihn solche Panikattacken schon seit seiner Kindheit quälen. Er erzählt von einem dominanten, gewalttätigen Vater, dem die Hand sehr locker saß, von Beruf Kohlenträger und darauf fixiert, einen Teil seiner freitäglichen Lohntüte gleich ins Wirtshaus zu tragen. Damals kostete das Glas Bier zu 0,3 noch 40 Pfennige und mit seinem Limit von 5 Mark war er gut dabei. Zu Hause gab es dann Prügel für die Kinder und sein Anteil als Ältester war auf jeden Fall immer gesichert. Die Mutter war ängstlich, als Hilfe für die Kinder in diesen Gewaltorgien praktisch nicht präsent.

Mit 16 und einem halben Jahr ging er heimlich aus dem Haus, zog zu einer Freundin, deren Eltern ihn aufnahmen, er erlernte einen Beruf bei der Bahn, die Uniform gab ihm einen gewissen Halt. Mit 18 heirateten sie, 2 Kinder kamen, alles schien geordnet.

Als seiner Frau dann die Belastung mit den beiden Kindern zu groß wurde, blieb sie zu Hause, heute fällt dies wohl unter den Titel „Hausfrau und Mutter“. Die Verantwortung für die soziale Absicherung der Familie blieb allein bei ihm, der Verdienst als Bahner nicht eben üppig. Sonderschichten, Nebenjobs blieben nicht aus. 

Nach kurzer Zeit merkt er, dass die Belastung für ihn zu groß wird. Er wird reizbar, spürt eine steigende Aggressivität, es stört ihn die berühmte Fliege an der Wand.

Sein Leben schwankt seitdem zwischen Angst und Panik einerseits und Aggression andererseits. Fühlt er sich überlegen neigt er zu aggressiven Ausbrüchen, fühlt er sich unter Druck und passiv unterlegen reagiert er mit Panikattacken. Zu Hause dominieren aggressive Gefühle und Angst den gleichen Weg zu gehen wie sein Vater, seine Aggressivität an Frau und Kindern auszutoben.

Inzwischen hat er gelernt seine Gefühle zu kanalisieren. 

Das martialische Outfit mit Tattoos und Piercings war der erste Schritt. Im zweiten Schritt schließt er sich der Hooliganszene seiner Fußball-Heimmannschaft, einem wegen seiner Fans gefürchteten Drittligisten an.
Seitdem geht er zu jedem Spiel, Fußball ist die eine Seite der Medaille, primär   geht er um sich zu prügeln. Und da er eher klein und schmächtig ist, bekommt er regelmäßig „auf die Fresse“. Der Schmerz ist das Wichtigste daran, er hilft ihm, seine Gefühle zu bändigen und seine Aggression nicht an seiner Familie auszulassen.
Stadionverbote, Geldstrafen, Sozialstunden, eine Freiheitsstrafe auf Bewährung stehen auf seinem Haben-Konto. Seine Familie hat dagegen er nicht geschlagen. 

Dafür gehört er zum harten Kern der Hooligangemeinde seines Vereines, immer vorn dran, immer einer der Ersten, wenn es zur Sache geht, nicht selten sogar von ihm provoziert.

Es verwundert mich nicht mehr, als er mir einige Tage später erzählt, dass viele seiner Hooligan-Kumpel auch so arme Schweine sind, wie er selbst, ein zitternder Hooligan.

Dabei zittern sie nicht vor dem körperlichen Schmerz in der Auseinandersetzung, im Gegenteil, der hilft ihnen sogar. Sondern sie zittern vor den Belastungen des ganz normalen Lebens, denen sie nicht gewachsen sind.

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