Nur ein Koffer

Am häufigsten sehe ich sie in meinen Gedanken an ihrem Küchentisch stehen, ich bin dahinter oder daneben auf einem Stuhl oder auf dem Fußboden, sitzend, fast immer sehe ich sie von hinten, klein, rund und und nach vorn gebeugt, so als habe sie keine Zeit sich mit mir, dem Kind, zu beschäftigen.
 

Ich sehe sie oft wie auf einem Foto vor mir, wie damals, heute Jahrzehnte nach ihrem Tod, während sich für mich die Gesichter vieler anderer Menschen, die in einem Leben mehr oder weniger eine Rolle spielten, längst wieder ins Nichts aufgelöst haben.
 

Eine kleine, alte und gebeugte Frau, graues Haar, streng hinten zu einem Knoten zusammen gebunden, wir nannten es Schwalbennest, darüber ein dünnes, hellgraues Netz, das sie nur abnahm, wenn sie die Haare neu ordnen musste, sie mochte es nicht leiden, wenn sich auch nur eine einzige Strähne aus dem Gefängnis befreite. Sie nestelte dann so lange daran herum, bis die äußerliche Strenge wiederhergestellt war. 
 

Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich jemals die Zeit genommen hätte mit mir zu spielen. Wenn ich spielen wollte konnte ich das tun, jederzeit, auch mit anderen Kindern, Krach störte sie scheinbar nicht, wenn es ihr zu laut wurde ging sie still und ohne einen Kommentar in ihre Schlafstube, es dauerte meist nur kurze Zeit bis ich sie vermisste, ich fand sie dann immer auf einem alten, tiefen Polstersessel neben ihrem Schrankkoffer unter der einzigen Quelle für Tageslicht des großen Raumes, einem kleinen Dachfenster.
 

Der Schrankkoffer war eigentlich eine bessere Kiste, ein Metallrahmen gab Halt, dünnes, leicht gewelltes Blech, mehr hoch als breit, die gebogene Klappe öffnete sich nach oben und wenn ich etwas suchte, musste ich mich hinein beugen, um auch auf dem Bode wühlen zu können. Zwei Kofferschlösser sollten den Inhalt sichern, Bügel, die das Unterteil mit dem Deckel verbanden und dann in einem stabilen Schließblech einrasteten. Der Schiebemechanismus zum Öffnen der Bügel, war sehr schwergängig, für meine Kinderhände nicht geeignet, der Inhalt wäre mir verborgen geblieben und so gehörte es zu meinen ersten positiven Leistungen zu ergründen, ob man mit dem Stiel eines Kaffeelöffels die Schlösser öffnen konnte. Es gelang.
 

Ich glaube, der Koffer enthielt Dinge, die ihr wichtig waren, zumindest habe ich nichts gesehen, was sie mit mehr Respekt behandelt hätte.
 

Das Kernstück war eine Holzschatulle, dunkelbraunes Holz, sehr massiv, mit geschnitzten Ornamenten, nochmals gesichert mit einem Schloss und nur ein einziges Mal gestattete ich mir einen Blick hinein, nachdem ich entdeckt hatte, dass der Schlüssel regelmäßig genau mittig unter ihrem Kopfkissen lag … und war enttäuscht. Nur alte Papiere! 
 

Ich erinnere genau, dass ich sie oft in ihrem Sessel angetroffen habe, die aufgeklappte Schatulle auf ihrem Schoss und in den Papieren lesend, Papiere, die wahrscheinlich ein Leben widerspiegelten. Die Schatulle und diese Papiere existieren nicht mehr und ich bedauere sie niemals gelesen zu haben.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s