Alles Hunger oder was … ?

Über den Hunger als „Prinzip“ im Leistungssport

Unsere Regionalzeitung titelte gestern auf der Sportseite:

„Tabuthema bei Läuferinnen: Je dünner, desto schneller?“

Gezeigt wird das Bild einer international erfolgreichen deutschen Läuferin, mit einer Größe von 174 Zentimetern und einem Gewicht von 48 Kilogramm, wahrscheinlich gewogen mit Schlüsselbund, Laufschuhen und nachdem sie vorher mindestens noch einen Liter Wasser getrunken hatte. Aber nehmen wir an, die Angabe stimmt, dann sind wir bei einem Body mass Index von 15,9, dies entspricht einem erheblichen Untergewicht. Physiologischer erwarten wir bei der Körpergröße mindestens 58 Kilogramm.

Verfolgt man heute Wettkämpfe in Ausdauersportarten, Schach sei ausgenommen, dann sehen wir „vorn“ fast nur noch Untergewichtige, im Allgäu würde man von „Hungerhaken“ sprechen und Oma Anna selig hätte gesagt: „Die kann dem Bock zwischen die Hörner schmatzen.

Also, stark untergewichtige junge Menschen treiben exzessiv Sport. Begonnen hat das Phänomen bei den Skispringern, junge Frauen und junge Männer, die im Wesentlichen nur noch durch ihre High- tech – Sprunganzüge aufrecht gehalten werden. Darunter ist nicht mehr viel. Zum Glück haben dort die Verantwortlichen schon reagiert und schreiben ein „Mindestgewicht“ vor, darunter gibt es knallhart kein Startrecht.

Nun hat das alarmierende Kapitel auch bei richtigen Ausdauersportarten offenen Einzug gehalten. Den Anfang haben bei den Läufern die sehr erfolgreichen Afrikaner gemacht, ausgesprochen hagere, dürre Gestalten, die alle Anderen „in Grund und Boden“ laufen.

Hier ein Beispiel: Das sollen „Männerbeine“ sein! Wir sehen hier keine Kinder, sondern ausgewachsene, höchsttrainierte Männer. Wenn wir uns die Männerbeine dieser kenianischen Spitzenläufer(!) ansehen, bleibt ein Schwanken zwischen Anerkennung und Mitleid.

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Hier für Interessenten auch ein Ausschnitt aus einer ARTE-Doku zum Thema.

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Die Frage, warum sind Ausdauerläufer heute so untergewichtig, birgt viele Facetten.

Einmal, zweifellos eine physikalische: Die Newton’schen Gesetze seinerzeit in der Schule gepaukt, habt ihr sicher, genau wie ich, schon wieder vergessen. Vielleicht erinnert Ihr Euch trotzdem:

Das zweite Gesetz nach Newton beinhaltet eine Formel, die das Verhältnis von Kraft, Masse und Beschleunigung beschreibt.

  • Die Formel lautet: Kraft (F) ist gleich Masse (m) mal Beschleunigung (a).
  • „F“ ist dabei die Kraft in Newton, „m“ die Masse des Körpers in kg und „a“ die Beschleunigung in Meter pro Quadratsekunde.

Ganz einfach ausgedrückt, um einen Körper zu beschleunigen, braucht es Kraft und deren Wirkungsgrad ist wiederum abhängig von der Körpermasse. Die Körpermasse spielt für die zu erzielende Geschwindigkeit somit eine große Rolle. Bei gleicher Kraft gilt, je leichter, desto besser ist eine geringere Masse in Bewegung zu setzen.

Das stimmt so für einfache anorganische physikalische Systeme. Ein Mensch ist aber neben einem physikalischen Körper, auch ein komplizierter Organismus.

So ist die Körperkraft wieder abhängig von der Relation der Muskelmasse pro Gesamtkörpermasse, aber auch von der Zahl der Muskelfasern, des Verhältnisses der unterschiedlichen Muskelanteile untereinander, von den Winkelverhältnissen des Körpers, die wiederum massgeblich vom Knochenbau bestimmt werden.

Dazu kommen Stoffwechselfaktoren, hormonelle Einflüsse, mentale Faktoren und, und, und.

Der Mensch ist also keine einfache physikalische Maschine, bei der jeder Funktionsparameter am „Reissbrett“ berechnet werden kann. Auch das ist übrigens früher im Leistungssport schon versucht worden, die vorgenommenen Versuche waren, auf den Punkt gebracht, nach heutigen Massstäben einfach unethisch. Ich hoffe, dass es aktuell solche Entwicklungen nicht gibt, meine Hand würde ich dafür allerdings nicht ins Feuer legen.

Unser Ausgangspunkt war das exzessive Untergewicht aktueller Spitzenläuferinnen.

Um es knallhart zu sagen: Die Läuferinnen spielen des Erfolgs willen bewusst mit ihrem Leben. Das bei ausgeprägter Unterernährung der Körper in einer extremen Belastungsphase, etwa einem Wettkampf, da er keine schnell verfügbaren Leistungsreserven mehr hat, bis zum Tod hin dekompensieren kann, liegt auf der Hand.

Die Verantwortlichen, Funktionäre, Trainer, Sportmediziner, aber auch die begleitenden Familien, die dieses letztendlich suizidale Verhalten unterstützen und tolerieren, handeln unverantwortlich!

Warum tun sich die Sportlerinnen diesen Wahnsinn trotzdem an?

Einerseits locken Anerkennung, Ruhm und im Erfolgsfall viel Geld, Geld, welches sie sonst nie im Leben in dieser Fülle verdienen würden. Ich verstehe gut, dass gerade junge Sportler dieser Versuchung sehr schnell erliegen können. Motivierte Sportler kommen dazu nicht selten aus prekären sozialen Verhältnissen. Für sie ist der Leistungssport die einzige Möglichkeit sozialer Tristesse zu entkommen.

Nach dem Kölschen Grundgesetz kneifen sie Augen und Ohren zu und verlassen sich darauf: „Et hätt noch immer jot jejange“.

Andererseits finden viele junge Frauen und Mädchen den Weg zum Ausdauerlauf aus einer ganz anderen Ecke: „Schlankheitswahn als Schönheitsideal“.

Der Wunsch schlank zu sein ist eine der häufigsten Quellen von Essstörungen: Bulimie, Anorexie (Magersucht), bis hin zum wahren ‚Zu-Tode-Hungern‘.

Es ist für mich immer wieder faszinierend von Betroffenen zu hören, dass der Ausgangspunkt einer letztendlich lebensbedrohenden Anorexie nicht selten eine x-beliebige, gewollte Hungerphase zur Gewichtsreduzierung war. Ganz schnell entwickelt sich daraus ein nur schwer oder gar nicht mehr reversibler Prozess, der in die anorektische Katastrophe führen kann.

Ich habe nicht wenige Frauen mit Essstörungen im Bereich des Leistungs- mehr noch des „gehobenen“ Breitensports kennengelernt, die genau diesen Weg genommen haben. Initial stehen „Diäten“, Hungerphasen und dazu kommt zur Unterstützung der Gewichtsreduktion das tägliche Rennen – notfalls – bis zur Bewusstlosigkeit. Das letzte vermeintlich noch überflüssige Gramm wird einfach heruntergerannt.

Wenn Euch das Thema interessiert, besucht einmal Wettbewerbe im Breitensport, wenn sich die Massen in Halbmarathon, Marathon oder gar Triathlonwettbewerbe stürzen. So viele essgestörte, anorektische Menschen werdet ihr nie wieder auf einem Haufen sehen. Ein Rat: Wenn Euch eure körperliche Unversehrtheit lieb ist, macht dies dort nicht zum Thema. Es gibt nämlich kein geeigneteres Feld um die Essstörung zu verstecken als den Sport. Darauf angesprochen müsst ihr auf aggressive Abwehr gefasst sein.

Und wenn sich Leistungswillen und die Ablehnung des (weiblichen) Körpers treffen, dann wird daraus möglicherweise, bei entsprechenden körperlichen Anlagen ein Internationaler Sportstar, der / die irgendwann auf der obersten Stufe des „Stockerls“ seinen / ihren Platz im ganz, ganz großen Scheinwerferlicht einnimmt.

So viel zur Frage: „Je dünner, desto schneller“.

Ein Rat für den Alltag, wenn sich in euerm Umfeld junge Mädchen und Frauen finden, die plötzlich extrem abnehmen und gleichzeitig jede freie Minute zum Rennen oder für anderen Ausdauersport nutzen, dann sollten bei Euch alle verfügbaren Glocken Alarm läuten und ihr solltet besser zwei, denn nur ein Auge darauf haben. Übrigens, in den letzten Jahren tummeln sich auch immer häufiger junge Männer auf diesem Feld. Also auch da, Augen auf.

Ich würde mich freuen, Eure Erfahrungen, Meinungen zu diesem Thema zu hören.

16 Kommentare zu „Alles Hunger oder was … ?

  1. Als ich in meiner Jugend anfing an Radrennen teilzunehmen begann der Nachbarsjunge eine Ausbildung als Jockei. Der war, im Gegensatz zu mir, schön kleingewachsen (ideal für den Job) und musste dann aber auch noch hungern um starten zu dürfen. Was hat der mich beneidet. Nicht etwa um Erfolge, da hatte er deutlich mehr. Aber um meine „Verpflichtung“ reichlich zu essen um keinen „Hungerast“ zu bekommen..

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  2. Ich möchte nicht wissen, wie sich die große Sportrepublik DDR an ihren Leistungssportlern versündigt hat. – Ein weiterer Zweig für absolutes Untergewicht sind ja die Models. – Wie gut, dass ich weder Leistungssport noch Leistungslaufstegbummeln mache . Und bei GNTM will ich auch keinen Preis 🙂 😉

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  3. Für junge Leute gebe ich dir Recht – da gibt es bei sehr vielen diesen Schlankheitswahn. Doch ab einem bestimmten Alter eifern die Leute hier doch mehr den Amerikanern nach – selten gab es so viele Übergewichtige als in den letzten Jahren. Die Leute fressen sich zu Tode.

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    1. Nun ja, Oma Anna selig pflegte immer zu sagen: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“ Die Dicken haben jetzt „genug zum Zusetzen“.Die halten locker mal 14 Tage ohne Kalorienzufuhr aus. Bloss, die rennen auch nicht jeden Tag x-Kilometer sinnlos durch die Gegend.😂 Niemand hätte doch gedacht, dass wir innert weniger Tage durch die künstlich geschürte Panik schon wieder in Versorgungsnöte kommen.

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  4. Mit absoluter Sicherheit standen die West- Sportverbände den DDR Funktionären nicht nach. Nur waren die öfters cleverer. Und das nicht nur bei den vorgeheizten Kufen der Bobs..

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    1. 1976 Montreal, DDR-Schwimmtrainer auf die Frage eines Reporters, warum die Schwimmerinnen so tiefe Stimmen haben: „Wir sind doch nicht zum Singen hier!“

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      1. Liebe Clara, der Begriff des Doping ist so weit zu fassen. Ich schreibe mal bei Gelegenheit etwas dazu. Doping sind ja nicht nur Pillen, sondern in meinen Augen beispielsweise auch exzessiv gute Trainingsbedingungen im Vergleich zum Rest der Welt. Da ist allein schon in der Definition viel „politische Luft“ drin. Lg. R.

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      2. Lieber Rainer, du bist ja wirklich ein Mann für alle Fälle, du kannst zu jedem Thema was vernünftiges sagen. Auf das Doping bin ich schon gespannt. Liebe Grüße von mir

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  5. Dumme Frage, passende Antwort – in diesen Zeiten. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeissen.. Lediglich die im Westen gut situierte Frau Kerstin Ott ist mir suspekt. Das war die Einzige, die nie gedopt hat.. Also, noch brauche ich keine Beisszange um mir die Hose anzuziehen.. Die „schnelle Pulle“ zu meiner Zeit (Ronicol, Pervitin usw.) gehörte ja im Westen schon ins Reisegepäck. Harmlos, denke ich, gegen das was inzwischen auf dem Markt ist..

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  6. In Falsettlage zu singen ist unter Oral-Turinabol weder Männern, noch Frauen möglich.

    Und, Kristin Otto, bis zum Beginn der Menopause hatte sie noch Schultern wie früher auf dem Jahrmarkt die Preisboxer. Selbst die Bodybuilderinnen bekommen das nicht hin und die nehmen auf ihren Körper nun wirklich keine Rücksicht.

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  7. Mein Eindruck ist, dass diese dünnen Sportler idR allesamt deutlich gesünder als der schwere Durchschnittsmensch sind und für ihren Sport gerade nicht hungern müssen, sondern einfach durch die ganzen Trainingseinheiten derart viel an Energie verbrauchen, dass sie trotz all des Essens so dünn sind.

    Zumal viele wie z.B. die beiden Läuferinnen in dem Bild noch sehr jung sind und damit in einem Alter, in dem man im Normalfall imho sehr schlank ist, wenn man Sport macht und normal isst.

    Ich finde es nicht gut, wenn man den sehr dünnen Sportlern gleich aus der Ferne unterstellt, zu hungern bzw. eine Essstörung zu haben. Auch die Häme über die angeblich „unerwachsenen“ Männerbeine der obigen Sportler kann ich nicht nachvollziehen.

    Und ich wage mal zu behaupten, dass man mit einer Essstörungen auf Dauer nicht derartige sportliche Leistungen abliefern könnte. Schon gar nicht wie die Klosterhalfen über Jahre. Zumal ihre Figur immer schon sehr dünn war und sie nicht dünner geworden ist. Es wird bei ihr einfach eine Mischung aus Veranlagung/Genetik und erhöhtem Energieverbrauch durch viel Sport sein.
    Körperlich dürfte sie deutlich gesünder als die meisten von uns sein.

    Ich will es Ihnen nicht unterstellen, aber bei manch einem steckt hinter der Kritik an sehr schlanken, noch dazu sportlichen Menschen auch eine gute Portion Neid bzw. eine Abwehr des eigenen schlechten Gewissens, weil man sich selbst zu wenig bewegt bzw. Sport macht und zu viel wiegt bzw. weniger wiegen möchte.
    Wie beruhigend, wenn man sich dann einreden kann, dass der eigene Zustand doch viel besser und gesünder als das vermeintlich ungesunde, von Entbehrungen gezeichnete Leben der Menschen, auf die man mit dem Finger zeigt.

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  8. Natürlich sollen Sie ihre Meinung haben. Ich bin früher selbst viele, viele Kilometer leistungssportlich gerannt, jetzt fahre ich Fahrrad, weil meine Knie es nicht mehr wollen. Und außerdem habe ich mich lange im Rahmen (leistungs)-sportlicher Medizin bewegt. Ich weiss, wovon ich rede.
    Sie wahrscheinlich auch, von der anderen Seite? Lassen Sie mich raten: Sie sind sehr schlank, Sie rennen sehr viel, benutzen Nasentropfen häufiger als vom Arzt verordnet, zählen jede Kalorie und üben selbstinduziertes Erbrechen? Mein Rat: Gönnen Sie sich heute morgen ein gutes Frühstück „mit allem“. Für jeden von uns könnte es das letzte sein. Einen schönen Sonntag, Rh

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    1. Die Vermutung mit den Nasentropfen finde ich so kurios, dass es schon wieder amüsant ist. Nasentropfen nehme ich zwar, aber nur wie vom HNO-Arzt verordnet phasenweise wegen meiner Histaminintoleranz, weil ich dadurch zur Polypenbildung in den Nasennebenhöhlen neige.

      Laufen gehe ich selten, ich habe es mehr mit Kampfsport (und früher u.a. Handball), als mit reinem Ausdauersport.
      Wobei ich Laufen nicht schlecht finde als Ausgleich zum Bürojob, außerdem macht das querfeldein im Wald mit Musik dazu sogar Spaß und man kann dabei wunderbar träumen und abschalten. Sportlichen Ehrgeiz habe ich dabei aber nicht.

      Kalorien zähle ich auch nicht und mit Essen an sich habe ich kein generelles Problem. Zutreffend ist, dass ich mich sporadisch vorsätzlich übergebe bzw. übergeben habe; die Gründe dafür sind mir bekannt.

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